
Ulrich Teschke wurde 1959 in Hannover geboren. Er studierte die Fächer Deutsch und Französisch für das höhere Lehramt in Marburg und Rennes. Kurze Zeit nach dem Referendariat, das er in Freiburg absolvierte, arbeitete er gut drei Jahrzehnte lang als Gymnasiallehrer an unterschiedlichen Orten: Rostock, Gera, Bretten und Karlsruhe, wo er aktuell mit seiner Familie lebt.
Nach seiner aktiven Zeit als Lehrer, in der er unter anderem zahlreiche Erfahrungen mit Mobbing unterschiedlichster Schattierung sammeln musste, betätigt er sich nun schriftstellerisch und engagiert sich in der Flüchtlingshilfe.
© E. R.
Über Ulrich Teschke
Und hier geht es zu meinem Debütroman:
- Eine Tüte Chips und 'ne Handvoll Grips - Eine (un)wahre Schulgeschichte
© S.N. / U. T.
Paperback
&
E-Book
Über ein Feedback würde ich mich riesig freuen!
Erfahrungen aus dem Schulalltag, die man nicht in jedem Fall für möglich hält, obwohl sie der Realität entnommen und also authentisch sind, werden in diesem Buch neben fiktiven Zuspitzungen, die der Verdeutlichung dienen, zum Teil auf drastische Weise und lebendig vor Augen geführt. Hierbei spielt Mobbing, das nicht nur unter Schülern, sondern auch unter Lehrern seine Opfer sucht, eine nicht unwesentliche Rolle. Unterschwellig hat auch Rassisimus seine Hand mit im Spiel, obwohl die Schule sich mit dem Schild "Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage" rühmt. Ist die Fiktion realistischer als die Realität?
Dabei wechseln Detailreichtum, Spannung, Humor und ein optimistischer Blick in die Zukunft einander ab. Letzterer verschafft sich trotz aller vorhandenen Tragik Raum, sodass der Leser bzw. die Leserin in dem Bedürfnis nach Lösungen und Zuversicht nicht allein gelassen wird. Nicht zuletzt trägt die vorhandene Utopie zu dieser Stimmung bei.
Als ich noch im aktiven Schuldienst war, ließ mich ein Kollege wissen, dass es Mobbing gegen Lehrer gar nicht gebe. Diese Erklärung war eine Entgegnung auf meinen Hinweis, dass man es nicht auf sich beruhen lassen dürfe, was ihm widerfahren sei.
Was ihm widerfahren war, erfährt man detailliert in diesem Roman. Die Darstellung ist weitgehend authentisch. Sie ist jedoch anonymisiert, um die Privatsphäre der betroffenen Person zu wahren.
1
›Vom Winde verweht‹ ist nicht nur ein Romantitel, sondern auch die Chipstüte, die Marco auf seinem Weg zur Schule aus der Hand geglitten war. Nicht so schlimm, denn das Objekt seiner Begierde, der Inhalt der farbenfroh glänzenden Tüte, hatte bereits seinen Hohl- und Aufbewahrungsraum gewechselt und Zwischenstopp in Marcos Magen eingelegt. Das Resultat eines kleinen Trosts, den ihm die Berührung des knusprigen und würzigen Kartoffelprodukts mit seinem Gaumen beschert hatte. Kurze Aufmunterung vor der Trostlosigkeit, die schon auf ihn wartete und ihn gleich für einige Stunden des Tages in Beschlag nehmen würde.
2
Kaum war der Genuss verflogen, bahnte sich die erste Katastrophe des Tages an. Jesse und seine drei Kumpane gingen parallel zu Marco auf der anderen Straßenseite, natürlich in die gleiche Richtung, die auf das Hassobjekt vieler ihrer Altersgenossen zulief. Das Verbindende jedoch band nicht und hinderte Jesse nicht daran, jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um anderen das Leben zur Qual zu machen.
»Hey, schaut euch den Arsch mal an!«
Eine ganz normale Begrüßungsformel aus dem Mund von Jesse. Nicht umsonst hieß seine Gang ›Torture Kids‹. Und ihrem Namen machten die vier zusammen unweigerlich alle Ehre, indem sie dröhnend und aufdringlich in einer Weise lachten, die jedem Beobachter als eine kakofone Darbietung lautmalerischer Dimension erscheinen musste, die ihresgleichen suchte: Da war Max, der wiehernde Gaul, neben ihm Axel, die knarrende Tür, ihnen folgte Kuno, der knatternde Zweitaktmotor und allen voran ging Jesse, der röhrende Hirsch.
Dass Marco jedoch gar keine Regung zeigte, gefiel ihnen nicht, absolut nicht. Sie drohten um ihr allmorgendliches Vergnügen gebracht zu werden. Das war nicht hinnehmbar. Ihre Gewohnheiten waren ihr unverblümtes Recht. Einen Verstoß gegen ihr ungeschriebenes Gesetz konnten sie nicht dulden.
Also wechselten sie flugs die Straßenseite, natürlich ohne auf irgendjemanden oder irgendetwas Acht zu geben, schließlich drehte sich alles nur um sie. Dass die beiden herannahenden Autos, das von links und das von rechts, durch ihr Ausweichmanöver beinahe aufeinandergeprallt wären, kümmerte sie kein bisschen, sie hatten nicht mal Notiz davon genommen. Wichtig war ihnen nichts anderes als ihr Vergnügen, das sie in diesem Moment nur über die Leidensmiene von Marco beziehen konnten, die erst noch herzustellen war. Darin bestand ihre Mission, die jedoch dieses Mal ruhen musste angesichts der nur noch kurzen Distanz zum Schultor, von dem aus die aufsichtführende Lehrkraft sie bereits in Augenschein genommen hatte.
Aufgeschoben war nicht aufgehoben. Ein einmal anvisiertes Opfer entging ihnen nicht, es zollte nur zu einem späteren Zeitpunkt seinen Tribut für ihr Vergnügen. Daran änderte auch die ernste Zurechtweisung von Herrn Schuster, dem Sportlehrer, nichts:
»He, Jungs, ich hab’ genau mitbekommen, was ihr da im Schilde führt. Ich meine nicht den Unfall, den ihr gerade beinahe verursacht hättet. Wenn ich Wind davon bekomme, dass ihr Marco oder sonst wem auch nur ein Haar krümmt, werdet ihr euch wünschen, diesen an sich so wunderbaren Planeten nie betreten zu haben. Habt ihr mich verstanden?«
»Reg’ dich ab, Alter«, nuschelte kaum vernehmlich Jesse, dem die anderen drei mit missmutigem Gesichtsausdruck hinterherschlurften und dabei fast noch Herrn Schuster angerempelt hätten.
…
33
Montagmorgen. Harter Schnitt. Abrupter Übergang von der relativ beschaulichen Geruhsamkeit des Wochenendes zur Betriebsamkeit des Alltags, die heute besonders hektisch ausfiel. Rolfs Referendar Hans-Georg Blümchen hatte nämlich seine bereits erwähnte erste Lehrprobe im Fach Deutsch, noch dazu in der ersten Stunde und in einer 10. Klasse, die aus 8 Mädchen und 23 Jungen bestand.
Jeder, der sich mit Gruppendynamik auskennt, kann sich ausmalen, was das bedeutete. Es war zwar kein bösartiges Individuum in dieser Klasse auszumachen, aber natürlich gab es niemanden, der nicht wahrgenommen werden wollte. Insbesondere die Jungen meinten, ohne es selbst zu wissen, sie müssten sich nicht nur inhaltlich mit dem Unterrichtsstoff auseinandersetzen, sondern diesen darüber hinaus als ein Mittel dazu benutzen, sich den weiblichen Geschöpfen gegenüber in Szene zu setzen. Natürlich waren nicht irgendwelche Faxen gefragt, sondern in dieser Altersgruppe und Bildungsschicht stand eine gewisse Intellektualität hoch im Kurs, die, wenn man sie nicht besaß, zumindest gespielt werden musste.
Aber all das war für die betreffenden Schüler viel schlimmer als für Hans-Georg Blümchen, der sich inzwischen einen guten Stand in der Klasse erworben und somit von dieser Seite nichts zu befürchten hatte.
Unwohlsein bereitete ihm vielmehr die unerbittliche Strenge, die nach seiner Wahrnehmung von den zwei Herren, die nur wenige Minuten nach ihm das Lehrerzimmer betraten, verkörpert wurde: Achim Zoll und Lars Franke, Prüfungsvorsitzender der eine, Fachleiter der andere, beide in Anzüge gezwängt, die sie sonst nie trugen, und von Krawatten beinah stranguliert, die ihnen in ihren Bewegungen eine ungewohnte Steifheit verliehen. Sie würden all das bemängeln, was er selbst als Fehler erkennen würde, aber mangels ausreichender Übung noch nicht so im Griff hatte und also nicht vermeiden konnte.
Wenigstens ein klein wenig Zeit und Ruhe, um seine Gedanken zu ordnen und benötigte Materialien zurechtzulegen, hätte er vor Beginn der Prüfungsstunde noch gerne zur Verfügung gehabt. Nur deshalb war er eine dreiviertel Stunde vor Unterrichtsbeginn in der Schule erschienen.
Dass der Fachleiter und der Prüfungsvorsitzende auch so frühzeitig ankommen würden wie er selbst, hatte er nicht erwartet und war ihm gar nicht recht. Allen Beteuerungen zum Trotz, er solle sich durch ihre Anwesenheit nicht stören lassen, sie würden sich in aller Ruhe seinen Unterrichtsentwurf durchlesen und seien quasi gar nicht da, führten nicht dazu, dass er die in ihm aufkeimende Nervosität herunterfahren konnte.
Dennoch arbeitete er in dieser Situation daran, sich den Anschein von Souveränität und Zielsicherheit zu geben. Schließlich wusste er, dass die bevorstehende Prüfung etwas von einem Schauspiel hatte, das im Fall eines positiven Ausgangs Züge einer Komödie und andersherum Facetten einer Tragödie trug. Egal ob Komödie oder Tragödie, die Veranstaltung hatte bereits mit dem Erscheinen von Herrn Zoll und Herrn Franke begonnen.
Aufgelockert wurde der äußerlich steife Rahmen, als Rolf Hagedorn dazukam und nach einer freundlichen Begrüßung den Anwesenden einen Kaffee anbot, der von allen abgelehnt wurde. Hans-Georg war, auch wenn er gerne einen Kaffee getrunken hätte, dafür viel zu unruhig; er hätte die Kaffeetasse nicht ohne sichtbares Zittern halten können, wodurch er nicht nur ein bisschen kostbaren Kaffee verschüttet, sondern auch Einblick in seine innere Verfassung gegeben hätte, was die Komödie schon frühzeitig ihres konstitutiven Elements beraubt hätte. Herr Zoll und Herr Franke konnten nicht zulassen, dass sie nach außen möglicherweise den Eindruck erweckten, sie seien zum Vergnügen hier. Nein, den Charakter größter Ernsthaftigkeit und Gewichtigkeit mussten sie unter allen Umständen wahren, was mit dem Genuss dieses schwarzen Getränks nicht gewährleistet wäre, wenngleich die Farbe Schwarz nicht unpassend für die Charakterisierung ihres Unterfangens war.
Fünf Minuten vor dem Ertönen des Gongs, der alle aufforderte, sich ins Klassenzimmer zu begeben, bevor drei Minuten später der nächste und letzte Gong energisch den Unterrichtsbeginn einforderte, begleiteten Hans-Georg Blümchen und Rolf Hagedorn Herrn Zoll und Herrn Franke in den Raum der 10d. So könnte man es unverfänglich ausdrücken, wenn die Konstellation der vier Personen nicht eine andere Beschreibung als zutreffender nahelegen würde. Herr Zoll und Herr Franke begleiteten den Referendar Hans-Georg Blümchen in Form des Zangengriffs, wobei sie ihm einen Fuß Vorsprung ließen, damit er ihnen den Weg weisen konnte. Rolf Hagedorn trottete hinterher.
…
52
Eine Woche später, an einem Freitagabend, trudelten alle Schülerinnen und Schüler zur vereinbarten Zeit bei Jesse ein, die einen auf die Minute genau, einige andere mit ein bisschen Verspätung. Als Allerletzter schließlich erschien ein Überraschungsgast. Die Achtklässler kannten Marco nicht, dem Jesse lange Zeit als Schüler feindlich gegenübergestanden hatte. Sie beide, Jesse und Marco, hatten den lebenden Beweis angetreten, dass aus Feinden tatsächlich Freunde werden können. Seit ihrer gemeinsamen aktiven Zeit in der Schultheater-AG hatten sie sich kennen und einander schätzen gelernt: Marco beeindruckte die Improvisationsgabe, die Jesse wie kein anderer in sich trug und damit so manche Theateraufführung vor einem Reinfall bewahrte. Jesse hingegen schätzte an Marco dessen Talent der Präzision. Er merkte sofort kleinste Abweichungen vom Originaltext, sodass es ihm möglich war, bei zahlreichen Proben dem einen oder anderen auf die Sprünge zu helfen.
Heute Abend jedoch ging es um keine Theaterprobe oder -aufführung. Vielmehr sollte Marco die Gelegenheit erhalten, Zeuge einer fiktiven Schulgründung zu sein. Denn auf nichts anderes würde die gemeinsame Auswertung der Texte hinauslaufen, die zu schreiben Jesse den Schülerinnen und Schülern vor gut einer Woche aufgetragen hatte. Und Schule war ein Gesprächsthema, das Jesse und Marco bei ihren zahlreichen Treffen immer wieder beschäftigte. Es genügte ihnen nicht wie vielen ihrer Altersgenossen, der qualvollen Umklammerung der Schule entronnen zu sein. Der Gedanke, dass sich so wenig an dem starren Gebilde getan hatte, das die Schule immer noch war, erfüllte sie gelegentlich mit Wut, insbesondere weil es galt, ihren eigenen Kindern die bestmögliche Förderung angedeihen zu lassen.
Bevor es jedoch an die Auswertung der Schülertexte ging, stand der gesellige Teil des Abends im Vordergrund: Der Grill mit seiner grellroten Glut wartete darauf, seiner Bestimmung gemäß tätig zu werden. So landeten nach und nach Steaks, Würste und Grillkäse für kurze Zeit auf dem Rost. Der große runde Tisch neben dem Grill schenkte seine freie Fläche unterschiedlichen Salaten, einigen Baguettes sowie Geschirr und Besteck. Auch ein paar Knabbereien wurden in dafür vorgesehene Behältnisse gefüllt. Als Marco den Inhalt einer Chipstüte in eine Schüssel entleerte, fühlte Jesse, als er das sah, sich an düstere Zeiten erinnert, in denen er, sein Unwesen treibend, unter anderem Marco das Leben zur Hölle gemacht hatte. Als dieser Aspekt der Vergangenheit in ihm aufloderte, konnte er nicht umhin, den anwesenden Schülerinnen und Schülern diese Episode seines Lebens, die ihn auf unerquickliche und für Außenstehende nicht zu fassende Weise mit Marco verband, zu erzählen. Dies tat er nicht prahlend, sondern eher beichtend, beschämt und im aufrichtigen Ton der Reue.
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Das Schreiben von Büchern ist stets ein Vergnügen, weil es als Spiel mit Worten beginnt und schließlich auf wohlwollende Weise an der Realität rüttelt:

© U. T.

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